Ende Oktober erscheint das neue Album Memory Sketches II von Tim Linghaus. Wie alle Alben aus der Feder vom Komponisten wird es sicherlich am Jahresende in einigen Referenzen und Highlights auftauchen. Es unterhält auf seine ganz spezielle Weise und lässt den Hörer abtauchen in Dimensionen aus Gefühl und Ton. Der sympathische Musiker ist immer gerne bereit, mit dem Musikmagazin über seine Arbeit zu reden. Warum es auf dem neuen Werk zurück zum Klavier geht und ob einige Geschichten aus der Kindheit rund um „S“ der Wahrheit entsprechen.
Sympathisch und bodenständig: Der Komponist Tim Linghaus.
Hallo mein Freund Tim, wie geht es Dir zur Zeit? Hallo André. Vielen Dank, dass du dir wieder Zeit für meine Musik nimmst. Mir geht es richtig gut, denn ich habe Herbstferien und kann ein bisschen entspannen und mich vom Schulalltag erholen. Außerdem werde ich meine Familie besuchen, worauf ich mich sehr freue. Einige meiner engsten Menschen habe ich seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen aufgrund der Pandemie. Mit Freunden werde ich auch ein paar schöne Sachen machen. Und Musik, Musik wird wahrscheinlich immer irgendwie mit dabei sein.
Seit unserem letzten Gespräch sind es schon wieder zwei Jahre her. Was ist in dieser Zeitspanne alles passiert um Dich? Natürlich ist die Pandemie passiert. Ich weiß, dass ich persönlich nicht so heftig betroffen war/bin wie ganz viele andere. Das liegt zum einen daran, dass ich einen relativ sicheren Job habe. Natürlich gab es in den Schulen viele Veränderungen, viele Fragezeichen, unzählige neue Regelungen, ganz anderen Unterricht, Distanzlernen, geteilte Lerngruppen, viel Mulmiges. Allerdings bin ich da ganz gut durchgekommen. Zum anderen hatten diese ersten anderthalb Jahre mit Corona für mich ganz privat auch einige positive Aspekte. Ich bin mittlerweile eher ein ruhiger Mensch, weil ich tagsüber relativ häufig von vielen Menschen umgeben bin. Daher genieße ich nach der Schule die Stille sehr. Durch die Pandemie waren die Tiere in meinem Garten plötzlich in größeren Gruppen da. Und manchmal war man ganz allein am Strand. Das gab es so noch nie. Das war schön.
Mit dem Debüt der EP „Vhoir“ 2016 ist der Name Tim Linghaus renommiert. Du bist außerdem bei SCHOLE Recs, einem Vorzeigelabel aus Japan. Wenn man das so liest, was geht Dir da durch den Kopf? Mittlerweile gucke ich da vielleicht ein bisschen zu nüchtern drauf. Ich hab ja schon ein paar Sachen veröffentlicht in den fünf Jahren. Damals war es natürlich etwas ganz Großes für mich. Ich weiß noch, wie ich während einer Kursfahrt in Prag in meinen freien Momenten E-Mails mit Moderna Records in Kanada schrieb, um alles für Vhoir zu klären. Das war eine schöne und aufregende Zeit. Und auch der Anschluss mit Memory Sketches bei Schole und 1631 Recordings in Schweden war ein wichtiger und toller Schritt für mich. Ich hatte dadurch ganz neue Zugänge bzw. ergaben sich ganz neue Zugänge zu meiner Musik. Wenn ich die physischen Veröffentlichungen in die Hand nehme, die alle Shin Kikuchi (Schole) hergestellt hat und die vom wunderbaren Alex Hanke (www.zumheimathafen.de) grafisch gestaltet worden sind, fühle ich Stolz und Glück. Die haben alle ihren Platz an der Wand in meinem Zuhause.
Ich hatte einfach richtig Bock, wieder mehr mit dem Klavier zu machen
Das Albumartwork stammt von Alex Hanke.
Wir treffen uns natürlich aus einem bestimmten Grund – Im Oktober erscheint Dein neues Album. Ist das Werk eine Fortsetzung aus dem Jahre 2018? Hast du noch mehr zu Erzählen aus deiner Geschichte? Genau. Das ist der zweite Teil der Erinnerungsskizzen. Es gibt wieder vier Kapitel, dieses Mal rückwärts erzählt, und jeweils vier Stücke, die für sich eine konkrete Erinnerung musikalisch abbilden. Ach, weißt du, es gibt darüber hinaus noch so viele weitere Erinnerungen, die vermusiziert werden könnten. Das könnte doch sicher jeder sagen. Allein die Jahre als Kind in der DDR. Das ist bei uns wahrscheinlich sehr ähnlich. Und irgendwie wird mir dieses Thema auch nicht langweilig. Vielleicht liegt das daran, dass ich merke, wie gut es mir tut. Seine eigene Geschichte so zu bearbeiten, ist was sehr Sinnstiftendes. Wenn ich mich in Ruhe hinsetze und mich ganz aktiv einfach in meine Erinnerungen begebe, dann passiert etwas mit mir. Ich kann das nicht gut beschreiben. Es ist, als drehte sich danach die Welt ein bisschen anders, als würde ich irgendetwas verstehen über das Leben und über Zeit. Manchmal stellt sich dann auch ein sehr starkes Gefühl des Verpassens, des Bereuens ein. Zu wissen, dass man nicht zurück kann, dass die Zeit unabänderlich weiterläuft und weitergelaufen ist, kann einen ganz schön erwischen. Das trägt jedoch auch stark dazu bei, das Erleben in der Gegenwart anders zu würdigen.
Auf „Memory Sketches II“ tritt ein Instrument sehr prägnant auf die Bühne, das Klavier. Wie kam es dazu, das Piano als Protagonisten erstrahlen zu lassen? Ich hatte einfach richtig Bock, wieder mehr mit dem Klavier zu machen. Und die Idee zu MS II war irgendwie richtig gut. Dass das Klavier im Mittelpunkt steht, war ja beim ersten Teil im Prinzip auch schon so. Für mich war das auch von Anfang an klar. Vielleicht kann das Klavier am treffendsten eine Stimmung einfangen. Ich mein, alles Musikalische transportiert irgendetwas und löst sehr schnell und sehr direkt Reaktionen aus. Anders als ein Bild‚ jedenfalls bei mir. Musik greift mich ganz anders. Und das Klavier tut das dann auf seine Art nochmal heftiger. Höre ich irgendwo Klaviermusik, bin ich dabei und will wissen, was sie mit mir macht. Und sie macht immer irgendetwas.
Sehr heraushören kann man wieder die manifestierte Melancholie, gepaart mit deiner so typischen Art von Retrospektive, die in der Musikszene ihresgleichen sucht. Mich würde interessieren – beim Komponieren, welche Gedanken gehen Dir durch den Kopf da? Für Memory Sketches habe ich immer die Erinnerungen im Kopf und versuche, Melodien zu finden, die zu ihnen passen. Das klingt ein bisschen schematisch, fast schon einschränkend vielleicht. Ich habe aber nie eine Art Einschränkung empfunden. Eher im Gegenteil - die Suche nach dem Klang einer Erinnerung ist für mich zu etwas sehr Vertrautem und gleichzeitig Befreiendem geworden, weil ich mich durch die Vergangenheit bewegen kann, ohne dass die Aktion an sich jemand bewertet.
Ich sitze nicht irgendwo und werde komisch angeguckt, weil ich irgendwie abwesend bin, sondern ich streife planvoll durch die Vergangenheit mit den Fingern auf den Tasten in meinem Raum an meinem Instrument. Klingt ziemlich bescheuert, wenn ich das so sage. Aber das liegt nur an meiner Beschreibung. Die Sache ist im Prinzip wirklich schön. Eine Erinnerung, vielleicht Bilder und Geräusche oder Gerüche, ein Ton, noch ein Ton. Nein, das passt alles doch nicht. Nochmal neu. Hier, dieser Ton muss es sein. Ja, das ist er. So geht das dann. Und diese Suche lässt Stücke entstehen, die tief verwoben sind mit meiner Geschichte. Eine sehr persönliche Art des Komponierens, eine Stärke und eine Schwäche zugleich.
Du vermittelst in den insgesamt 16 Stücken viele Botschaften aus dem Herzen. Auf welche sollte der Hörer besonders eingehen? Ich glaube, das überlasse ich am besten den Hörer*innen. Vielleicht passiert gar nichts, obwohl ich sage, worauf ich selbst achten würde. Da ist ja jeder Mensch anders. Wenn ich jetzt z.B. fragte, wie das denn bei dir so war, ob du auch früher mal irgendwann mit jemandem zur Schule gerannt bist, kommt es ja darauf an, ob du das wirklich mal selbst erlebt hast. Wenn nicht, dann wirst du vielleicht auch zu dem Stück gar keinen Zugang finden. Deshalb sind die Titel auch so entscheidend. Mir bringt es nicht viel bei den MS, ein Stück einfach nur A oder Baum zu nennen. Das wäre viel zu beliebig und die Erinnerung wäre für die Hörenden überhaupt nicht greifbar.
Ich möchte die nämlich am besten so konkret wie möglich benennen und dabei aber auch so unkonkret wie möglich bleiben. Bei Running To School With S zum Beispiel ist ja völlig klar, dass es darum geht, dass ich irgendwann mal mit S zur Schule gerannt bin. Warum das so war, ist aber komplett offen. Und vielleicht erinnert sich jemand dann an eine ähnliche Situation im eigenen Leben, was dann zu einer Überlappung der eigenen Erinnerungen mit meinen führt. Manchmal schrieben mir Menschen Nachrichten, in denen sie schilderten, woran sie ein Stück erinnert hatte. Da war ich oft ganz verwundert, weil mir nicht klar war, dass diese Vergleichswirkung so groß sein könnte. Insofern war der erste Teil von MS auch irgendwie riskant. Das hätte ja auch völlig sperrig sein können. Was sollte jemand denn mit meinen Erinnerungen anstellen? Mittlerweile weiß ich aber, dass das sehr gut funktioniert. Und am Ende ist da ja auch noch die Musik.
Im Gegenzug zu dem Vorgänger sind die elektronischen Strukturen leicht minimiert. Eine spezielle Entscheidung? Ich finde auch. Wie das gekommen ist, weiß ich gar nicht. Es ist jetzt auch viel klarer angeordnet. Jedes vierte Stück ist ein Synthesizer-Arpeggio. Das ergab sich einfach.
Memory Sketches II besitzt keinen Gesangspart – Warum eigentlich? Ich hatte genug Gesang auf den beiden Vorgängern. Das reicht erstmal. Neulich meinte auch ein Freund zu mir, dass er das gar nicht so schön fand mit dem Gesang. Die Singles der neuen Platte findet er jetzt wieder besser. Mal sehen, was er zum ganzen Album sagt. Aber ihn wirds auf jeden Fall freuen, dass es keinen Gesang gibt.
Für mich war völlig klar, dass Alex wieder das Artwork macht.
Memory Sketches II von Tim Linghaus erscheint am 29.10.1021.
Wenn ich „We Were Made For Waving Into An Indefinite Future“ höre, dann fühle ich mich extrem verbunden. Mit Dir, der damaligen Zeit und einem Aspekt, der zeitlos erscheint. Welche Zukunft hat Tim Linghaus vorgeschwebt und ist sie auch eingetroffen? Siehst du. Bei dir klappt das gut, dieses Vergleichsding, diese Art der Verbundenheit. Zu der Frage: Ich wollte erstmal gar nicht Lehrer werden, sondern Kameramann. Das hat aber aus verschiedenen Gründen nicht geklappt. Damals wohnte ich in Berlin, dann starb mein Vater und ich wollte nur noch da weg, weil ich die Stadt mit dem Bangen und Hoffen in der Zeit kurz vor seinem Tod verbunden habe. Ich musste mich neu orientieren. Das Lehramtstudium war dann eine Art Plan. Ich weiß aber auch nicht, ob ich den Eignungstest zum Kamerastudium überhaupt bestanden hätte.
Mal ehrlich Tim, hast du wirklich damals mit „S“ Mathematik geschwänzt? Erzähle doch bitte die Geschichte. Und wie geht es „K“? Also jetzt hier erstmal an meine Mutter, die das sicher liest: Das kam echt nicht oft vor. Ich habe sehr selten mal geschwänzt. Und zu der Erinnerung: Ja, ich schon mal Mathe geschwänzt. Wir wurden sogar erwischt - von unserer Mathelehrerin. Die war nämlich zu spät und kam uns entgegen. Wir mussten dann ganz reumütig wieder mit ihr zusammen zurück in die Schule. Das war ein bisschen unangenehm, denn ich war eigentlich ein recht artiger Schüler, würde ich sagen. Das Stück fängt aber nicht diese Erinnerung ein, ich weiß auch nicht mehr, ob S überhaupt bei dieser Geschichte dabei war, sondern einen Tagtraum während des Matheunterrichts, den ich nicht immer sehr spannend fand. Ich hatte mir häufig vorgestellt, mit ihr zu schwänzen. Es kam aber nie dazu, soweit ich mich richtig erinnere.
Und K lebt in den Alben. Die Idee ist ja eigentlich, dass er nochmal wiederkehrt auf dem letzten Teil der Trilogie von We Were Young über Venus Years zu X. Mal sehen, ob das was wird. Dazu muss ich auch erstmal wieder Lust zum Singen bekommen lol.
Ich liebe diese geheimen Botschaften auf den Alben. In der Spielzeit, den Songtexten – welche verbirgt der Komponist Tim Linghaus in Memory Sketches II? Ich mag sehr, dass dir so kleine Details auffallen. Naja, es ist ja mit allen Geheimnissen so, dass sie aufhören zu existieren, sobald man sie verrät. Wobei geheime Botschaften auch irgendwie zu krass klingt. Hm. Ich würde mich bestimmt fragen, weshalb die Kapitel jetzt rückwärts angeordnet sind.
Wir müssen mal über deine Alben-Covers reden, denn die sind immer äußerst ästhetisch. Das aktuelle wurde von Alex Hanke erstellt. Wie kam es dazu? Für mich war völlig klar, dass Alex wieder das Artwork macht. Er hat ja alle Alben gemacht bis jetzt. Seine Art, meine Vorstellungen grafisch umzusetzen und Dinge zu zeigen, ist einfach immer schön und passend. Außerdem sind wir irgendwie auf einer Wellenlänge, was die Gestaltung betrifft. Und er hat ganz oft special Ideen, auf die ich nie gekommen wäre. Checkt auf jeden Fall seine Seite zumheimathafen.de aus. Da gibt es super viel zu entdecken.
Was macht ein Tim Linghaus, wenn er nicht am Klavier sitzt oder im Studio anzutreffen ist? Am liebsten quält er junge Menschen mit Satzbauplänen. Er spielt auch ab und zu DayZ. Neuerdings fährt er auch manchmal auf diesen neumodischen E-Scootern durch Hamburg. Erst vorgestern nach dem Kino so um Mitternacht. Da waren die Straßen ganz leer und der Mond schien durch die Bäume. Das war schön.
Welche Musik bzw. Künstler/Bands hörst du aktuell ganz persönlich sehr gerne? Oh, ich höre gerade ziemlich viel Mac Miller.
Du bist sehr bescheiden und bodenständig, selbst bei dem großen Erfolg der Vorgänger. Im Rampenlicht zu stehen, da wirst du wahrscheinlich beim neuen Album nicht herumkommen. Gerüstet? Ich danke dir. Ach, mal schauen, was so passiert. Ich bin ganz entspannt.
Vielen Dank Tim, wie immer hast du das letzte Wort: Alles Gute zum Zehnjährigen :) Auf die nächsten zehn! Danke für deine Arbeit. Viele andere Musiker*innen und ich sind unheimlich froh, dass es dieses tolle Magazin gibt.