Am 10. Februar veröffentlicht der deutsche Komponist Boris Rogowski sein neues Album „The Waste Land“, welches stark auf das Langgedicht von Thomas Stearns Eliot basiert. Es gilt als eines der bedeutendsten und einflussreichsten Werke des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Kommentarwerke beschäftigen sich mit der Deutung des komplexen Werkes. So auch das Album, mit Streicher-Arrangements und starken Einflüssen aus dem Musikbereich des neoklassischen Ambient. In einem Interview erzählt der Komponist aus Köln die Entstehungsgeschichte und etwas über sich.
Boris Rogowski lebt und arbeitet in Köln.
Hallo Boris, wie geht es Dir gerade? Gut. Ich war die letzten Tage erkältet, Körper und Geist haben sich noch nicht ganz wiedergefunden. Aber ich habe einen schönen Earl Grey, hinter mir läuft ein Staubsauger, vor mir stehen zwei große Weihnachtssterne und hinter ihnen liegt der Garten, in dem es schon fast dunkel ist.
Erzähle ein wenig über Deine musikalische Vergangenheit. Wie bist Du zur Musik gekommen? Mein Vater ist ein großer Musikliebhaber, und mein Elternhaus war voll von Schallplatten, Tonbandgeräten und Radios. Eigentlich lief fast immer Musik, ich habe mir Erzählungen nach schon als kleines Kind bestimmte Stücke und Platten gewünscht und dann auf viel zu großen Kopfhörern angehört. Davon gibt es auch Bilder, es wird also wahr sein.
Wann und wie hast Du dann das Genre der klassischen Musik für Dich entdeckt? Bei uns zu Hause lief ausschließlich klassische Musik. Ich erinnere mich, dass ich Barockkomponisten wie Vivaldi und Händel besonders faszinierend fand. Bach kam komischerweise erst später. Bis ich 9 oder 10 war, wusste ich auch nicht, dass es überhaupt andere musikalische Richtungen gibt. Und interessant wurde Musik jenseits der Klassik für mich erst durch „Summer Dreaming“ von Kate Yanai, das war die damalige Bacardi-Werbung. Ich gebe zu, dass ich das Lied immer noch mag.
Kannst Du dich an das erste Mal erinnern, als Du ein Lied geschrieben hast? Beschreibe es doch ein wenig. Klar, ich erinnere mich noch sehr gut. Da war ich 15 und hatte gerade meine klassisch-musikalische Ausbildung an Klavier und Oboe endgültig aufgegeben, um mir stattdessen eine billige Akustikgitarre zu kaufen und Akkorde zu lernen. Damals war Gitarrenmusik extrem beliebt, weil Nirvana zwei Jahre vorher mit „Nevermind“ die komplette Musiklandschaft rasiert hatten (als ich gerade bei „Bacardi Feeling“ angekommen war). Ich habe vor allem ein Album aus dieser Zeit geliebt, „Whiskey for the Holy Ghost“ von Mark Lanegan. Genau solche Musik wollte ich damals auch machen, und das hört man diesem ersten Song auch an. Drei Akkorde und viel Leid, das natürlich nicht wirklich meins war – reine emotional appropriation.
Wer hat Dir dann die Unterstützung gegeben, um weiterschreiben zu können? Für wen hast du die frühen Songs gespielt? Ich habe mir von einem Bekannten meiner Eltern, der inzwischen ein guter Freund und auch mein Verleger ist, einen Achtspur-Kassettenrekorder ausgeliehen. Damals war das extrem moderne Technik, weil Computer noch nicht in der Lage waren, Audioproduktionen abzuwickeln. Damit habe ich in den Jahren darauf weit über hundert Songs aufgenommen. Drei meiner engsten Freunde haben damals auch Songs geschrieben, also wanderte der Rekorder von einem zu anderen, und wir haben massenweise Kassetten aufgenommen und untereinander und in der Schule ausgetauscht und verschenkt. Ein paar Fans hatten wir damals schon, aber die meisten haben uns für komplette Spinner gehalten, glaube ich.
Im Februar erscheint das neue Album „The Waste Land“. Ist man da vorher etwas aufgeregt oder reine Routine für Dich? Gar keine Routine! Immerhin ist es das erste Album, das unter meinem eigenen Namen erscheint. Es bedeutet mir wirklich viel und ich bin sehr glücklich damit, wie es geworden ist. Aber aufgeregt – nein.
Ich glaube tatsächlich, dass das Gedicht heute wieder sehr aktuell ist
The Waste Land erscheint am 10.02.2023 über Piano&Coffee Recs.
Kommen wir zum Album, es ist inspiriert vom gleichnamigen Gedicht aus der Feder Thomas Stearns Eliot. Was fasziniert dich an diesem Langgedicht? Das ist nicht ganz einfach zu erklären. Ich habe es schon zur Schulzeit kennengelernt, durch einen Freund, der es in der Bibliothek seines Vaters entdeckt hatte. Es ist ein ziemliches Monstrum, über 3000 Wörter. Geschrieben von einem ausgesprochen schwierigen Menschen, über den wenig Sympathisches bekannt ist. Aber es hat eine Musikalität und eine sprachliche Schönheit, die ich vollkommen einzigartig finde. Eine Art eigenen Sound. Und es beschreibt die vielen Orte, die es durchwandert, auf so plastische Weise, das man fast das Gefühl hat, selbst dort zu sein – was zugegebenermaßen nicht immer nur angenehm ist. Das Gedicht ist ja vor allem für seine Komplexität und seine Unmenge an mythologischen/historischen/kulturellen/religiösen Anspielungen bekannt. Aber man kann es auch völlig anders lesen, es hat auch eine ganz unmittelbare Schönheit, die man erleben kann, ohne etwas vom Inhalt zu verstehen. Das finde ich beachtlich.
Das Hauptthema ist die Vereinzelung und Leere des Menschen in der Moderne. Hatte der Mann vor 100 Jahren die Gegenwart entschlüsselt damit? Ich glaube tatsächlich, dass das Gedicht heute wieder sehr aktuell ist. Das lyrische Ich sucht verzweifelt nach Sinn und nach einer Spiritualität, die einen solchen Sinn herstellen könnte. Das Land ist „wüst“, weil der König im Sterben liegt – er muss aber andererseits sterben, damit etwas Neues entstehen kann. So ist es heute auch. Der Kapitalismus, würde ich behaupten, ist eigentlich schon tot und wird künstlich am Leben erhalten. Das hat sehr unangenehme Folgen, weil viele Menschen das Vakuum spüren – gerade in Zeiten von Krisen – und dieser Leere nicht mehr mit den gewohnten konsumistischen Mitteln beikommen können. Natürlich bedeutet das Sterben des Kapitalismus nicht automatisch, dass sich danach etwas einstellt, das besser ist. Aber ich glaube, dass es eine starke Sehnsucht nach einer moralischen Autorität gibt, und ich persönlich hoffe, dass sich Gerechtigkeit und Humanismus durchsetzen werden. Omri Boehm hat vor Kurzem ein absolut bemerkenswertes Buch geschrieben, „Radikaler Universalismus jenseits von Identität“, in dem er sehr gut erklärt, warum die heutige Abneigung gegen den humanistischen Universalismus, die sowohl von rechts als auch von links kommt, auf falschen Auffassungen beruht. Er hat mit dem Buch eine Idee aufgezeigt, wie man das wüste Land nach dem Tod von König Kapital wieder fruchtbar machen könnte.
Auf dem Werk werden moderne Aspekte der Akustik und klassische Inhalte kombiniert. Wie entsteht ein Song von Dir? Genau, diese Kombination ist für das Album sogar ganz entscheidend gewesen. Ich habe die meisten Stücke am Klavier komponiert und dann später am Computer ausgearbeitet und für ein Ensemble aus Streichinstrumenten, Holzbläsern und – vor allem – samplebasierten Instrumenten arrangiert. Ohne diese Samples gäbe es das Album gar nicht. Ich hatte sie Anfang 2020 zusammen mit meinem Freund und Studiokompagnon Ben Bazzazian aufgenommen, das war sozusagen unsere Beschäftigung im ersten Lockdown. Wir haben Klänge und Instrumente aufgenommen, die wir mochten, und sie durch eine Kette von alten Effektgeräten und Bandmaschinen geschickt, bis sie Patina und einen ganz eigenen Charakter hatten, der uns beiden sehr gefällt. Sie klingen wie alte, vergessene Aufnahmen, die mit der Zeit viele Federn gelassen, aber gerade dadurch eine ganz eigene Schönheit gewonnen haben. Dieser Klang hat mich an den Sound des Gedichts erinnert; so kam mir die Idee, meine über Jahre angesammelten musikalischen Gedanken zu The Waste Land einmal festzuhalten.
Welcher Titel auf dem Album hat dich ganz besonders gefordert, bis du vollkommen zufrieden warst? Das letzte Stück, „What the Thunder Said“, war am schwierigsten. Der erste Teil davon ging mir sehr schnell von der Hand, er ist fast improvisiert, könnte man sagen. Aber ich wusste, dass ich einen zweiten brauchte, und der hat dann wirklich ewig gebraucht, um Form anzunehmen – auch weil mir dieser Teil des Gedichts besonders am Herzen liegt. Irgendwann, nach bestimmt 15 Versionen mit ganz unterschiedlichen Ansätzen, war ich fast fertig, aber irgendetwas fehlte immer noch. Dann kam mir die Idee, die abschließenden Worte, „Shantih Shantih Shantih“, in Form von Morsecode unter das Ende zu legen. Und danach klang für mich endlich alles richtig.
Das Album beinhaltet insgesamt 11 Stücke voller fragiler Schönheit und Melancholie. Gibt es ein – zwei besondere Stücke, die Dir sehr am Herzen liegen? „Marie Marie“ ist auf jeden Fall eins meiner Lieblingsstücke, weil es einerseits sehr melodisch und melancholisch ist, aber andererseits nach ganz strengen mathematischen Prinzipien komponiert ist. Solche scheinbaren Widersprüche finde ich sehr faszinierend. Am allermeisten mag ich aber „What the Thunder Said“, von dem ich gerade schon erzählt habe.
Du integrierst neben den Streicher-Arrangements auch andere Instrumente in einigen Stücken. Erzähl doch einmal, wie die Arbeit mit einem String-Quartet aussieht? Dazu gehört auf jeden Fall, erst einmal zu verstehen, wie Streichinstrumente überhaupt funktionieren, welche Klänge sie erzeugen können und wie man diese Klänge am besten notiert. Da ich mit klassisch ausgebildeten Musikern zusammenarbeiten wollte, musste ich zum ersten Mal im Leben Noten schreiben – und die mussten auch verständlich und richtig sein, weil wir für die Aufnahmen nur begrenzt Zeit hatten. Hier hat mir mein Freund David Menke – ein Komponist, mit dem ich oft zusammenarbeite – wirklich sehr geholfen, da er auch sehr viel von den technischen Aspekten versteht. Er hat nicht nur über meine Partituren geschaut und Anmerkungen gemacht, sondern auch noch seinen Urlaub unterbrochen, um zu den Aufnahmen mit dem Streichquartett zu kommen und den Sound zu ermöglichen, den ich wollte. Dabei hat er nebenbei noch das Klavierstück, „In Rats‘ Alley“ eingespielt, nachdem ich es selbst nach wochenlangem Üben nicht hinbekommen hatte. Neben Ben ist er auf jeden Fall ein weiterer Mensch, ohne den es das Album in dieser Form nicht geben würde.
Das Streichquartett hat Alex Sachs zusammengestellt. Er spielt „hauptberuflich“ in einem jungen Frankfurter Quartett, dass sich interessanterweise Eliot Quartet nennt – ein wirklich wunderbares Ensemble mit einem sehr spannenden Repertoire. Alex hat die erste Geige übernommen, außerdem ist noch Eliot-Cellist Michael Preuss dabei, sowie Irina Borissova an der zweiten Violine und Anna Krimm an der Bratsche. Mein alter Freund Roland Münchow (einer der Homerecorder aus meiner Schulzeit) hat alle Flöten und Saxofone auf dem Album eingespielt, und mein ehemaliger Bandkollege Claus Schulte hat das Schlagzeug auf „The Violet Hour“ gespielt – ein kurzer, aber sehr wichtiger Part. All diesen Musikern bin ich unendlich dankbar.
Es gibt heutzutage viele Möglichkeiten, Musik zu entdecken
Was macht ein Boris Rogowski, wenn er nicht am Klavier sitzt oder im Studio anzutreffen ist? Ich bin gern zu Haus und mag es, wenn es ruhig ist und keine dringenden Dinge zu erledigen sind. Meine Frau und ich gehen beide sehr gern spazieren und wandern, kochen viel, kümmern uns um unsere Pflanzen – solche Dinge. Außerdem lese ich gern, und ich lese auch gern vor. Und ich mache Shaolin Kung-Fu.
Verfolgst du die Veröffentlichungen im Bereich deiner Musik? Welches Album oder Komponist hat dich zuletzt Allgemein sehr beeindruckt? Besonders beeindruckt mich KMRU. Das ist der Ambient-Künstler Joseph Kamaru aus Berlin. Ich habe sein Album „Peel“ zu einer Zeit kennengelernt, in der ich dachte, dass ich keine wirklich neuartigen Klänge mehr entdecken würde und im Grunde genommen schon alle möglichen Arten und Facetten von Musik kennengelernt hätte. Das Album hat mir schlagartig bewiesen, dass das nicht der Fall war: Es klingt wie nichts anderes. Die Hörerfahrung ist für mich im besten Sinne spirituell, und „Peel“ auch nach über zwei Jahren kein Stück weniger faszinierend. Ich würde aber jedem empfehlen, es in Ruhe zu hören. Es ist ein absolutes Kopfhöreralbum.
Wie siehst du im allgemeinen die deutsche Musiklandschaft? Erzähle doch bitte, was dich stört und was du im Gegenzug vorbildlich siehst. Ich fühle mich fast schlecht, aber ich kann praktisch nichts zu einer deutschen Musiklandschaft sagen. Ich sehe mich selbst auch nicht als Teil davon. Mein wunderbares Label, Piano & Coffee Records, ist ja total international, und ich habe auch ehrlich gesagt noch nie besonders darauf geachtet, woher die Musik kommt, die ich höre und mag. Es gibt hier in Deutschland natürlich ein paar großartige Musiker und Bands, und mit einigen von ihnen arbeite ich auch zusammen. Aber von einer übergreifenden deutschen Musiklandschaft habe ich keine Vorstellung. Ich weiß gar nicht, ob es sie gibt.
Was genau kann die Presse, Redakteure oder Journalisten tun, um klassische bzw. deine Musik populärer zu machen? Das was du gerade machst. Sich mit ihr beschäftigen, Menschen auf sie neugierig machen, ihr Raum geben. Ich denke, es gibt heutzutage viele Möglichkeiten, Musik zu entdecken, und auch viele Menschen, die ihre Entdeckungen mit anderen teilen. Ich selbst entdecke ja auch ständig Neues, und eigentlich bin ich total zufrieden damit, wie es ist.
Vielen Dank Boris, die letzten Worte gehören Dir: Entschuldige die vielen Worte – und vielen Dank, dass du Platz für sie machst!