Er zählt zu einem steil aufsteigenden Stern am Himmel der modernen Klassik, der deutsche Komponist Tim Linghaus. Ende 2016 erschien fast wie aus dem Nichts die EP „Vhoir“, welche international sehr lobend aufgenommen wurde, auch bei uns. Am 30. März 2018 legt Tim sein lang erwartetes Debütalbum mit dem Titel „Memory Sketches“ vor, eine sehr emotionale Verbindung von Musik und Gefühlen. In einem Interview erzählt der Komponist über die Entstehung zum Album und was es ihm bedeutet.
Hallo Tim, wie geht es Dir im Augenblick? Hallo André. Mir geht es gerade ziemlich gut. Ich habe jetzt nämlich erst mal gute zwei Wochen Osterferien und freue mich sehr auf das Interview.
Bist du ein wenig aufgeregt auf den 30. März, wenn das neue Album erscheint? Total! Die Musik ist jetzt schon seit geraumer Zeit fertig. Auch die Arbeiten am Artwork hat der wunderbare Alex (www.zumheimathafen.com) seit ein paar Wochen abgeschlossen. Das Album ist jetzt unveränderbar aus meinen Händen gegeben und ich bin natürlich sehr gespannt darauf, wie die Hörer reagieren.
Mit der EP Vhoir hast Du einen richtigen Achtungserfolg gefeiert. Warst du überrascht mit so vielen positiven Feedback? Ein bisschen schon. Das war ja im November 2016 mein allererstes Signal in die Welt der Klaviermusik. Ich mein, das war schon noch alles recht überschaubar. Aber die Rezensionen waren richtig gut. „Vhoir“ hat mir gezeigt, dass es Menschen gibt, denen meine Musik etwas bedeuten kann. Darüber bin ich glücklich.
Bedeutsame Erinnerungen aus einer Lebensspanne von ca. 20 Jahren
Memory Sketches erscheint am 30.03.2018
Erzähle ein wenig zur Entstehungsgeschichte zu Memory Sketches. Was hat sich gegenüber von Vhoir geändert? Hast Du neue Wege für Dich erschlossen? Die erste Skizze für das Album hatte ich schon ein paar Monate vor der Erscheinung von „Vhoir“auf meinem Handy aufgenommen. Das war die Melodie zu „Coming Home From Graduation, Pt. I(Yearbook)“. Ich hatte gerade ein Klavier gekauft. Meine Güte, das ist jetzt schon wieder anderthalb Jahre her. „Vhoir“ war da aber auch schon fertig, glaube ich. Auf der EP hört man ja fast gar nichts Analoges. Nur ein paar Feldaufnahmen vom Waldrand, Stadt- und Wattgeräusche. Ansonsten ist alles digital erzeugt. Die wesentlichste Veränderung ist der Wechsel vom Digitalen zum Analogen, vor allem durch das Klavier. Außerdem verfolgt MS im Gegensatz zu „Vhoir“ eine thematische Leitidee, die sich wie ein roter Faden durch alle Stücke zieht. Man könnte es Konzeptalbum nennen.
Die Stücke auf Memory Sketches sind wie der Name sagt, kurze Stücke, Skizzen von Erinnerungen. Wie viele eigene „Memory Sketches“ stecken im Album von Dir selbst? Das stimmt. Ich will das mal erklären. Es gibt einige ganz kurze Stücke auf dem Album, was den Hörer konzeptionell vermutlich erst einmal verwirren wird. Manche sind gerade einmal etwas über eine halbe Minute lang. Das kennt man so eher nicht in dem Genre. Es ist also ein bisschen anders als bei anderen Alben, auf denen Stücke zwischen so drei und fünf Minuten aneinandergereiht sind. Alex, der eine ganz frühe Version von MS hatte, hat mir mal erzählt, dass er das mit den kurzen und langen Stücken zunächst ein bisschen merkwürdig gefunden habe. Nach ein paar Durchläufen habe aber alles Sinn für ihn ergeben, weil es sich eben um in Musik übersetzte Erinnerungen handelt und ein paar davon sind eigentlich eher Fetzen als etwas Komplexes oder cineastisches. Die haben gleichermaßen ihre Daseinsberechtigung und brauchen eben keine lange Musik.
Ich mag die kurzen Stücke und auch deren Positionen sehr. Sie geben dem Album im Ganzen eine ziemliche Vielfalt und lassen es ein bisschen an ein Beat-tape erinnern. Außerdem kommt hier die angesprochene Leitidee zum Tragen. Ich wollte konkrete Erinnerungen konservieren, indem ich sie „vermusiziere“. Mir fällt kein besseres Wort ein. Das trifft es irgendwie am besten. Ich habe einige bedeutsame Erinnerungen aus einer Lebensspanne von ca. 20 Jahren gesammelt, so frühe 1980er bis 2002, und versucht, mit Musik das bestimmte Gefühl der konkreten Erinnerung abzubilden. Das war manchmal schwierig und hat überhaupt nicht geklappt, weil was ganz anderes transportiert wurde, als eigentlich transportiert werden sollte. Klingt irgendwie bescheuert, das muss ich zugeben.
Aber letztendlich hat es geklappt und im Nachhinein war der ganze Prozess für mich total wichtig, weil ich manche Dinge, die in der Vergangenheit liegen, erst durch das Album verstanden habe bzw. einordnen konnte. Wenn ich z.B. heute an den Tod meines Vaters denke, bin ich viel aufgeräumter als vor der Arbeit an MS. Das ist echt gut. Insofern sind alle Stücke biografische Skizzen, um auf deine Frage zurückzukommen.
Müsste das Album nicht „Emotional Sketches“ heißen? Alle Stücke greifen tief in die Gefühlswelt ein, ob mit traurigen oder heiteren Hintergrund? Das stimmt. So hätte man das auch nennen können, denn inhaltlich kommt das auf jeden Fall hin. Mir ist bei der Beschäftigung mit Erinnerungen was aufgefallen: Wenn ich wichtige Erinnerungen miteinander vergleiche, unterscheiden sie sich meistens in ihren Ausdrucksformen. Mal sind es nur kurze verschwommene Standbilder vor dem inneren Auge, während man vielleicht gerade arbeitet oder Auto fährt, träumerisch am Tag; mal sind es ganze Sequenzen/Abläufe mit klarem Ton, Gerüchen und scharfen Bildern. Die kommen aber nur, wenn ich wirklich Ruhe habe.
Wenn ich z.B. nachmittags schlafe und dann aufwache, habe ich manchmal so krasse Erinnerungssequenzen und werde ganz wehmütig oder sehnsüchtig, denke, ich hätte irgendwas verpasst. Ich setze oder lege mich auch manchmal einfach hin und denke an früher, gehe meinen alten Schulweg nach oder so. Das sind dann ganz bewusst hervorgekramte Erinnerungen. Spannend finde ich auch die, die einfach so kommen, angestoßen durch irgendetwas in der Gegenwart. Was für eine enorme Speicherkapazität wir haben, ist schon bemerkenswert. Jedenfalls finde ich, dass nach der Subtraktion aller Ausdrucksformen am Ende immer was im Bauch und im Blick zurückbleibt. Und das ist glaube Emotion.
Tim Linghaus
Sehr ausgeprägt sind die melancholischen Facetten, die dem Album zu etwas Besonderes macht. Nehmen wir mal „Funeral for Dad“ oder „Grandma‘s Deathbed“, die einen mit den Tränen kämpfen lassen. Warum ist die Melancholie so ausgeprägt in den Stücken? Weil ich mit 13 und 20 Jahren zwei wesentliche Todesfälle in meiner Familie erlebt habe, wie zwei Rahmen um mein Erwachsenwerden. Das hat mich in meiner Persönlichkeitsentwicklung offenbar sehr geprägt. Mir ist jetzt auch wieder ganz bewusst geworden, dass die meisten Melodien, die ich spiele, einen melancholischen Pinselstrich haben - ob ich will oder nicht. Das sagen auch alle immer zu mir. Das sei ja alles so traurig. Da kann ich nur mit den Schultern zucken, weil es stimmt.
Das Album ist in vier Kategorien unterteilt: „disappear, before, icarius und regret“. Welcher Part berührt Dich am meisten, oder ist das Album als Gesamtbild anzusehen? Gute Frage. Da könnte ich wirklich alle nennen. Nick von Moderna Records, mit dem ich während der letzten Phase der Produktion total viel über „Memory Sketches“ geredet und sehr wertvollen Gedankenaustausch gehabt habe, hat „icarius“ mal, wenn ich das richtig erinnere, als „reflection on death“ bezeichnet, also als eine Art Aufarbeitung des Themas „Tod“. Damit hatte er Recht, denn in diesem Kapitel geht es ganz offensichtlich um meinen Vater und meine Oma bzw. deren Sterben. Die anderen drei Kapitel bergen aber auch andere Hintergründe, die mich berühren. Schwer zu sagen. Das Album ist auf jeden Fall ein Gesamtbild, das jedoch keine zeitliche Chronologie einhält. Gleich das erste Stück „Looking For Dad In Radio Noise“ bildet die Erinnerung an einen Moment ab, der viel später passierte als zum Beispiel der von „Drive Me Somewhere Nice“. Durcheinander ist es aber irgendwie auch nicht. Also zeitlich schon. Aber ich erinnere mich ja auch nicht zwangsläufig chronologisch - das kommt ganz auf die Bezüge in der Gegenwart an. Die Kapitel sind vier Kreise, die sich berühren.
Die Musik auf die Bühne zu bringen, ist ein großer Zukunftsgedanke.
Sebastian Selke und Tim Linghaus bei der Probe.
In deinen Vlogs hast Du schon viel erzählt über das Album. Ist es Dir wichtig, dass der Zuhörer versteht, was du mit Deiner Musik ausdrücken möchtest? Mir ist es nicht wichtig, dass jeder Hörer die Hintergründe kennt. Dafür ist es ja am Ende auch nur Musik, die ganz allein funktionieren kann. Außerdem will das ja auch nicht jeder wissen. Mir ist aber sehr wichtig, dass die interessierten Hörer die Möglichkeit haben, die Hintergründe zu entdecken. Ich möchte möglichst viele Kanäle bereithalten, über die man sich, wenn man möchte, mit „Memory Sketches“ beschäftigen kann: die Musik, die Titel, das Artwork, die Vlogs etc. Das mache ich selbst auch immer sehr gern. Früher hab ich stundenlang in denselben CD-Booklets gelesen, rauf und runter, während ich die Musik dazu hörte. Ich begriff das als Nachricht an mich als Hörer, die gelesen werden wollte. Wo wurde aufgenommen? Wie heißen die Stücke? Wer hat was gespielt? Wem wird gedankt? Da konnte ich ewig forschen. So was mag ich.
Vhoir erschien über Moderna Records, Memory Sketches nun über 1631 Records bzw. Schole Records. Gibt es Gründe, nicht mehr mit Moderna Records zusammenzuarbeiten? Das ist im Kern einfach erklärt: Es gab verschiedene Vorstellungen von MS. Wie bereits erwähnt, sind solche kurzen Stücke relativ ungewöhnlich auf einem Album in dem Genre. Aus Labelsicht kann ich das auch komplett nachvollziehen. Ich konnte jedoch nicht auf sie verzichten. Dafür waren sie mir allein inhaltlich schon viel zu wichtig. Ich verehre Moderna Records aber nach wie vor. Es ist ein tolles Label, das sich sehr intensiv mit seinen Künstlern sowie deren Musik beschäftigt und einen fantastischen Katalog anbietet. Mir wurde mit „Vhoir“ die Möglichkeit gegeben, in dieser Welt der Klaviermusik einen ersten kleinen Fingerabdruck zu hinterlassen, wenn man so will.
Und auch als ich an MS arbeitete, hatten wir gute Ideen. Ich sprach bereits den unglaublich wertvollen Austausch mit Nick an, für den ich ihm total dankbar bin. Dass ich jetzt auf Schole (Japan) und 1631 (Schweden) veröffentlichen kann, ist für mich ein absoluter Glücksfall. Die beiden haben tolle Verbindungen und große Erfahrung; eine solche Kooperation kann ja nur gut sein. Überdies sind die Japaner absolute Verpackungsexperten. Das ganze CD-Paket sieht großartig aus und das Papier riecht unheimlich gut.
Wie war die Arbeit mit Sebastian Selke von Ceeys, der in einigen Stücken den Cellopart übernimmt? „I was Atoms and Waves“ ist einfach nur zeitlose Kunst aus meiner Sicht. Oh, schön. Vielen Dank. Also Sebastian steht mir menschlich irgendwie ganz nahe. Das habe ich sofort gemerkt. Wir beide sind ähnlich alt und haben vergleichbare Kindheitshintergründe (Stichwörter DDR und Mauerfall). Auf MS gibt es natürlich DDR-Bezüge (z.B. „Crossing Bornholmer“). Sebastian und sein Bruder tun das ja im Kern mit CEEYS auch, z.B. auf ihrer letzten Platte „Concrete Fields“. Im Zuge der Analogisierung meiner Musik wollte ich unbedingt auch ein analoges Cello haben, schrieb ihn an und er kam mit seiner Freundin für zwei Tage zu mir nach nach Hause. Es war eine ganz tolle Erfahrung, weil wir uns super verstanden. Ich hatte ihm vorher die Demos geschickt und die Aufnahmen in meiner Küche liefen fantastisch. Alles passte. Ich erinnere mich noch daran, dass wir danach an der Strandpromenade saßen und diesen angenehmen Augusttag mit Pizza und allerhand Fachsimpelei über Klaviermusik und Pferdekutschen genossen. Das war schön.
Hast Du schon Pläne für die Zukunft? Was können Musikliebhaber von Tim Linghaus erwarten? In diesen Tagen sehne ich natürlich die Albumveröffentlichung herbei, wobei mir eigentlich nur bleibt, zu hoffen, dass es Bedeutung erlangen kann für einige Menschen da draußen. Viel mehr kann ich jetzt nicht mehr tun. Die Musik auf die Bühne zu bringen, ist auch ein großer Zukunftsgedanke, der mich umtreibt. Und ich muss unbedingt Herrn Winkler in Oldenburg anrufen, weil mein Klavier ganz verstimmt ist.
Die letzten Worte gehören Dir: Ich möchte mich bei allen lieben Menschen, die irgendwie an MS beteiligt sind, bedanken. Du bist das ja jetzt auch irgendwie. Also vielen Dank für das Interview und ich hoffe sehr, dass wir uns bald mal über den Weg laufen.
Gezeitenstrom Musikmagazin wünscht Tim Linghaus alles Gute und viel Erfolg für die Zukunft und sagt Danke für die wunderbare Musik auf Memory Sketches.