Eintauchen in Dimensionen der Nostalgie. Das Zurückbringen an Erinnerungen aus der Kindheit, kein anderer deutscher Komponist ist dazu prädestiniert, als Tim Linghaus, mit seinem Repertoire aus Klang, Gefühl und Herz. Ende November erschien das neue Album "WeWere Young WhenYouLeft Home" und war wie gewohnt ein akustischer Wegweiser im Genre, dank eines außergewöhnlichen Talent des Musikers Tim Linghaus. In einem Interview erläutert Tim die neuen akustischen Pfade und gewährt Einblick in die private Vergangenheit.
Tim Linhhaus 2019.
Hallo Tim, es freut mich sehr. Erste Frage, wie geht es Dir gerade? Hallo André, mir geht es wirklich gut. Es ist Samstag und ich habe wenig vor.
Ende November erschien Dein neues Album. Ist man da immer noch aufgeregt, oder stellt sich langsam die Routine ein? Es ist zum Glück aufregend. Routine wäre furchtbar.
Das Album heißt „We Were Young When You Left Home“ und handelt von Kindern und ihrem Kampf mit Scheidung, Trennung, Verlust und der Suche nach einem Platz in dieser Welt. Persönliche Aufarbeitung oder ein generelles Anliegen für das Konzept? Da hat das Scheidungskind in mir geschrieben. Mein ganzes Weltbild in Bezug auf Sicherheit und zwischenmenschliche Stabilität ist von der Trennung meiner Eltern geprägt. Jedenfalls glaube ich das. Das soll aber nicht als Vorwurf an die beiden verstanden werden. Die hatten ja damals ihrerseits auch Biografien und gute Gründe, die ihr Verhalten und ihre Entscheidungen bestimmt haben. Das ist wie ein Fluss, den ich jetzt verstehe.
Das Album geht ungewohnte neue Wege, wenn man auf den Vorgänger zurückblickt. Facetten aus dem Jazz, dem Ambient sind gar nicht so selten. Wie kam es zu der Idee, diese Strukturen in den Songs mit einfließen zu lassen? Für das Album hab ich insgesamt anderthalb Jahre gebraucht. Da kamen ziemlich viele Ideen zusammen; die mit dem Saxophon zum Beispiel. Ich glaube, dass daher auch das Jazzige kommt. Tobias kannte ich durch die Big Band an unserer Schule. Ich hab ihn gefragt, ob er mal was einspielen will, und dann kam er vorbei und hat mal was eingespielt. Ganz schlicht. Letztendlich ist „We Were Young When You Left Home“ nur eine halbe Stunde lang. Das ist schon irgendwie rip bei anderthalb Jahren Arbeit. Es ist dennoch nicht so kopflos, wenn ich mir mehr Zeit lasse mit der Musik, die ich mache. Manche Ideen verlieren ihre Magie nämlich schon nach wenigen Stunden oder Tagen und müssen dann weg oder verändert werden. Zu Ambient kann ich nicht viel sagen, weil ich nicht genau weiß, was das ist, obwohl meine EP „Vhoir“ auch in Ambient-Listen war. Müsste ich mich mal schlaumachen.
Auch neu ist jetzt der Gesang, der hin und wieder die Atmosphäre steigert. Hat das viel Überwindung gekostet, vor dem Mikrofon zu stehen? Und wie kommt man als Komponist zu diesem Schritt? Nein, das war ganz einfach. Ich hab früher schon gern gesungen. In der Schule war ich im Chor und in Bands hab ich auch ab und zu mal was am Mikro probiert. Live ist das jetzt aber nochmal was ganz Neues. Da muss ich echt üben.
Das faszinierende und auch fesselnde ist dieser Retro-Charme. Was auch teilweise die Vorgänger hatten. Leichtes Kriseln wie ein Plattenspieler aus den Achtzigern bringt persönlich die Kindheit zurück. Was bindet dich persönlich an diese Zeit? Was fasziniert Dich an diesem Stilmittel? Finde ich total gut, dass du das erkannt hast und mich darauf ansprichst. Mir geht es auch so. Ich liebe dieses Knistern einfach. Das ist auch immer dasselbe von einer Dirty Dancing Platte. In diesem Film steckt meine ganze Achtziger Nostalgie (mal abzüglich der Synthesizer-Musik). Den kann ich immer gucken und jedes Mal packt mich dieses einzigartige Kindheits-Mojo. So ähnlich ist es auch mit der Schwarzwaldklinik. So schmalzig und stumpf die Dialoge manchmal sind, wenn die Melodie anfängt und die Kamera über die Klinik fliegt, lass ich laufen. Ich hab alle Folgen gesehen.
"Trotz der Nähe zu meiner eigenen Geschichte ist die des Albums natürlich eine Fiktion."
Das aktuelle Album We Were Young When You Left Home erschien am 22. Nov. 2019.
Das Album erzählt kleinere Geschichten aus der Kindheit, die man vermutlich an den Titeln identifizieren kann. Gibt es eine Story, die du gerne hier einmal erläutern möchtest? Trotz der Nähe zu meiner eigenen Geschichte ist die des Albums natürlich eine Fiktion, anders als bei „Memory Sketches“. Nichts auf dem neuen Album hat mit mir oder meiner Familie zu tun - unmittelbar jedenfalls. Miteinander verwoben werden beide Welten, also die reale und die fiktive, dann doch irgendwie, vor allem durch K, den Jungen auf dem Cover. Der ist ich und auch wieder nicht ich. Der kann im Prinzip jedes Scheidungskind sein. Auch seine Schwester Audrey ist zwar ganz konkret in der Fiktion, aber wie sie sich in den Köpfen der Hörer realisiert, ist komplett Hörersache.
Erklär uns doch noch bitte, was es mit Mr. Huppenduhler auf sich hat? Mr. Huppenduhler ist Ks Nachbar, ein älterer Herr und Witwer, der allein in seinem großen Haus wohnt. Der hat vieles miterlebt, weil K sich oft mit ihm von Garten zu Garten unterhalten hat. Ab und zu ist er mit K und Audrey zum Schwimmen an den See gefahren. Da herrscht also großes Vertrauen.
Wie gewohnt ist das Album eine reine Essenz aus Melancholie, Empathie und Tagträumen. Wo nimmt ein Tim Linghaus all diese Inspiration her, um diese so ästhetisch zu verpacken? Mir ist aufgefallen, dass ich als Kind viel malerischer im Kopf war, viel mehr Tagträumen hatte als heute. Das geht wahrscheinlich vielen Menschen so. Beruf und all die täglichen Wiederholungen verdrängen da anscheinend vieles. Man stumpft ein bisschen ab. Deshalb bewahre ich mir die Musik als Ort, an dem ich zurückfinde zu Phantasie. Außerdem finde ich den Verarbeitungsansatz für mich wichtig. Musikmachen ist Therapie und je genauer das Thema ist, desto besser klappt das für mich.
Das neue Album ist sehr expressionistisch veranlagt. Hast du schon eine Idee, wie es mit kommenden Werken weitergeht? Welche neuen Anstriche werden vermutlich dann Einzug halten? Als Nächstes beschäftige ich mich mit einer Antwort auf die Frage, wie es weitergeht, wenn es nicht mehr weitergeht. Da bin ich gerade mittendrin. Im Zentrum steht wieder ein Geschwisterpaar. Das wird irgendwas Dystopisches.
"Ich überlege mir schon, wie ich mich online verhalte."
Bodenständig und mit einer expressionistischen Ader - Tim Linghaus.
Reden wir mal über Dich. Im November 2019 stand 30 Jahre Mauerfall an. Du bist, wie ich, ein Kind der DDR. Kannst du dich noch erinnern, wie Du das alles damals mitbekommen hast? Ich war sieben als die Mauer fiel. Erinnerungen hab ich - durch die Arbeit an „Memory Sketches“ sind sie zum Teil sogar wieder relativ lebendig. Ich erinnere mich beispielsweise an den Grenzübergang in der Bornholmer Straße und die Bösebrücke. Wann genau wir da waren, weiß ich nicht mehr. Es war ein kalter Abend und die „neue Welt“ kam mir fremd und unbekannt, gleichzeitig aber auch aufregend vor. Ich erinnere mich an mein erstes Eis am Stiel. Das war absurd teuer, weil der Wechselkurs so extrem ungünstig war. Es geht aber nicht nur um Eis, neue Spielsachen, neue Kleidung an den Menschen oder neue Architektur oder so. Es geht hauptsächlich auch um ein Gefühl. Mir kam alles plötzlich neu vor - nicht nur in Berlin, sondern auch zu Hause. Da lag etwas in der Luft und ich bin froh, dass ich noch relativ jung war und wenig von Politik wissen wollte bzw. wenig über mich selbst nachdachte. Das machte es mir leicht.
Da hat es ältere, gestandenere Menschen durchaus übel getroffen, weil trotz der Befreiung vom Regime mit all seinen Schattenseiten, trotz der überwältigenden plötzlichen Verfügbarkeit von Waren etc. einige in eine mehr oder weniger erkennbare Identitätskrise sackten, was auch bei jungen Erwachsenen passierte. Das muss hart gewesen sein. Ich muss jetzt zwangsläufig an meinen 90-jährigen Opa denken. Er kam ein paar Jahre vor Hitlers Machtergreifung auf die Welt, musste als Teenager den Zweiten Weltkrieg miterleben, hat die russische Besatzung gespürt, bekam die Gründung der DDR mit, den Mauerfall und schließlich die Einheit. All diese Umbrüche mitzuerleben und sich immer wieder aufs Neue zurechtzufinden bzw. seinen Platz zu behaupten, muss unfassbar anstrengend gewesen sein. Dazu kommt noch, dass sich das alles für ihn in ein und derselben Stadt abspielte. Voll weird!
Könntest du Dir vorstellen, dazu eines Tages mal ein Album herauszubringen, was diese Tage damals akustisch reflektiert? Auf jeden Fall!!
Wenn keine neue Musik von dir ansteht, bist du im Internet selten aktiv. Ist das eine bewusste Einstellung, den ganzen Social Media Kram für dich nicht zu nahe ran zulassen? Jetzt mit dem neuen Release überlege ich mir schon, wie ich mich online verhalte. Aber du hast vollkommen Recht, ich bin auf keinen Fall ein alltagsfester Profi in dem Bereich. Ich hadere auch mit mir diesbezüglich. Auf der einen Seite ist der Informationsfluss im Netz viel schneller, auf der anderen verliere ich ein bisschen den Bezug zur Sache. Alles ist in Storys und Likes eingeteilt. Ständig bewegt man sich da in Bewertungsräumen, die sich irgendwie blasenartig und unecht anfühlen. Wenn ich nicht ab und zu mal jemanden aus dem Bereich treffen würde, z.B. beim Q3 Ambient Fest in Potsdam, könnten das eigentlich auch Bots sein, die diese merkwürdige Kultur der Likes steuern und von ihr gesteuert werden. Ich glaube, dass man das eigene Verhältnis zur Online-Welt im Blick haben muss und darauf achten sollte, dass sie einem nicht genügt oder vielleicht sogar besser gefällt als die analoge.
Letztes Jahr hast du gesagt „Die Musik auf die Bühne zu bringen, ist auch ein großer Zukunftsgedanke, der mich umtreibt.“ - Das ist 2019 ja passiert. Wie war das denn für dich, Live vor Publikum zu spielen? War die Aufregung groß oder überwiegt der Enthusiasmus? Das war eine schöne Erfahrung, wobei die Aufregung natürlich schon sehr groß war. Am meisten hat mich berührt, dass Menschen da waren, die ich lange nicht gesehen hatte. Die sind u.a. meinetwegen hingekommen. Das fand ich schön.
Schon Pläne für das Jahr 2020, das ja quasi in den Startlöchern steht? Nächste Woche spiele ich in Hamburg bei NDR Kultur. Das ist zwar noch 2019, aber da freue ich mich sehr drauf. Für 2020 bin ich an der Dystopie-Sache dran.
Vielen lieben Dank, Tim, wie gewohnt, die letzten Worte sind dein: Ganz lieben Dank dir!